Die Nacht kurz vor den Wäldern von Bernard-Marie Koltès

Konzeptionelle Überlegungen

Die Nacht kurz vor den Wäldern ist der Monolog einer modernen Großstadtexistenz. Es geht um Sinnsuche, um Einsamkeit und das Gefühl von Fremdheit, um die Sehnsucht nach Liebe. Der Text arbeitet mit vielen Wiederholungen, ohne Pausen oder Brüche zu setzen. Dadurch entsteht sein hohes Tempo (der Eindruck eines Gehetzten). Unser Interesse galt den einzelnen, oft krassen Geschichten, die die Figur erzählt. Es ging nicht darum, den gesellschaftlichen Verlierer zu zeigen (was der Text an der Oberfläche anbietet). Spannend an der Figur war vielmehr die dahinter stehende Energie und deren Transformation in ein positives Lebensgefühl (siehe hierzu auch: Diashow der Fäuste).
Die Geschlossenheit und das Tempo des Textes wurden dazu bewusst aufgebrochen, indem die einzelnen Geschichten separiert wurden. Nicht der Verlierer in seinem authentischen Leid, sondern seine Posen (des Leids, der Ohnmacht etc.) wurden vorgeführt, die Arbeit an einer neuen Souveränität, frei über eigene Rollen zu verfügen.

Szenengliederung:
1 Regen
2 Hotel
3 Schwanz
4 Idee
5 Saukerle (Katalog der prominenten Schweine)
6 Ficken und zurückbleiben (das Mädchen auf der Brücke)
7 Ficken und abhauen
8 Nicaragua (der General im Wald)
9 Metro

zirkuläre Gesamtstruktur (Jahreszeiten):
I Regen (Herbst): Szenen 1, 2, 3
II Idee (Winter): Szenen 4, 5
III Liebe (Frühling): Szenen 6, 7
IV Verschwinden (Sommer): Szenen 8, 9

Diashow der Fäuste:
Während der Probenzeit entdeckten wir in mehreren Stadtteilen Berlins Graffiti, der Hauptmotiv eine Faust war − in unterschiedlichsten Variationen und Kontexten, aber immer erkennbar als Handschrift eines Einzelnen. Es sind Spuren in einer Großstadt, Spuren, die an verschiedenen, oft an schwer zugänglichen Orten hinterlassen werden und die in sehr markanter Weise davon zeugen, dass da jemand ist. Jemand Unbekanntes macht auf sich aufmerksam − jemand, der sonst vielleicht nicht gehört, nicht wahrgenommen, nicht ernst genommen wird. Aber es sind auch Spuren, die man erst dann findet, wenn man dafür sensibilisiert ist − wenn man einen (thematischen, konzeptionellen) Rahmen hat, durch den Dinge sich abheben, prägnant werden vor einem diffusen Hintergrund. Nicht ohne Grund haben wir die Fäuste erst während der Proben gefunden. Ohne eine Beschäftigung mit dieser Thematik, wie der Text sie vorgibt, würde man sie nicht oder vielleicht nur in abwertender Weise bemerken (als Zerstörung oder Missachtung von Eigentum). Aber es sind Spuren, die Energie und Lust verraten − keine Resignation. Zu fragen ist, wie diese vorhandene Energie eingebunden und produktiv gemacht werden kann. Eine ausgewählte Reihe der Fotos wurde innerhalb der Inszenierung gezeigt.