Fluch der Karibik (Ltd.)

Konzeptionelle Überlegungen

Filmvorlage und Finanzkrise:
Der Schock angesichts des Beinahekollaps der internationalen Finanzmärkte muss jenem Schrecken ähneln, den vor 500 Jahren Piraten verbreitet haben. Die derzeitige Berichterstattung lässt daran keine Zweifel: Die Finanzmakler der Wall Street sind die Piraten des 21. Jahrhunderts. Bedrohlich stehen sie vor uns als Verkörperung einer diffusen, hochmobilen Macht, die unerwartet und mit zerstörerischer Kraft in unseren gemütlichen Wirtschaftsalltag und das behagliche Leben hereinbrechen kann.
Dabei ist es beileibe nicht so, dass die Piraten erst jetzt aufgetaucht wären. Spätestens seit der Jahrtausendwende sind sie als solche im medialen Bewusstsein präsent. Was der Schock der Finanzkrise uns jedoch vor Augen führt, scheint jener Rückkopplungseffekt zu sein, der bereits in Jerry Bruckheimers Piratenfilm Der Fluch der Karibik (2003) prägnant erfasst wurde: Das Versprechen grenzenloser Freiheit und Mobilität - wie ihn das Piratentum verkörpert - ist selbst fluchbeladen. Auf ihm liegt ein Fluch, der denjenigen bestraft, dessen Streben nach ideeller und finanzieller Freiheit grenzenlos wird und in Gier umschlägt. Er macht aus Menschen Monster, die zwar unsterblich sind, aber nichts Lebendiges mehr spüren können. So geht es den Hollywood-Piraten um Käpt'n Barbossa, die den Apfel zwar noch in der Hand halten, ihn aber nicht mehr schmecken können. Und so scheint es auch den Akteuren der Finanzwelt zu gehen, denen der Apfel zum bloßen Spekulationswert gerinnt, der nach nichts mehr schmeckt. Jerry Bruckheimers Piratenfilm scheint in diesem Sinne als hellsichtige Allegorie: Lastet nicht auch auf den Freibeutern der Wall Street jener »Fluch der Karibik« und kündet nicht der Schock der Finanzkrise vom Schrecken ebenjenes Fluchs?
Dafür spricht, dass auch den Akteuren der Finanzwelt der Gebrauchswert der gehandelten Waren abhanden gekommen ist. Ihr Handel mit faulen Krediten hat über der Schönheit der Preisentwicklung den zugrunde liegenden amerikanischen Grundstücksmarkt aus dem Blick verloren. Wie Barbossa mit Äpfeln jongliert, deren Geschmack ihm verloren ging, so wurden hier Werte gehandelt, denen die materielle Deckung abhanden kam. Jahrelang konnten die Finanzpiraten ohne Heimathafen und ohne nationale Grenzen durch die Finanzmeer(kt)e kreuzen. Bei Tag und Nacht - im trüben Schein der Anonymität des Internet und für keinen mehr nachvollziehbar - wurden Milliarden an Dollar und Euro um den Erdball geschickt, immer auf der Suche nach der höchsten Rendite, dabei jede noch so kleine Steueroase irgendeiner unbekannten karibischen Insel nutzend. Die Krise entsteht dem Piraten - damals wie heute -, wenn er in den Hafen einlaufen muss. Der Hafen des internationalen Bankensystems ist jene Realisationsforderung, die jetzt über den Investmentbanken à la Lehmann oder Hypo Real hereingebrochen ist. Der Abgleich mit der realen Welt zeigt plötzlich die Grenzen der Abstraktion: Aktien fallen, wo sich die über Negativzins-Kredite oder andere kreative Konstrukte finanzierten Häuser plötzlich als unverkäuflich erweisen. Die Fahrt auf großer Welle endet; an Land droht dem Piraten, was früher der Galgen war: der Bankrott.

Adaption:
Die Life-Film-Performance FLUCH DER KARIBIK (LTD.) untersucht die Reichweite dieser Allegorie: Trägt die Karibik als Chiffre für das zum Fluch werdende Versprechen größtmöglicher Freiheit, das Finanzjongleur und Pirat eint? Dazu stellt ein Schauspieler in einer Miniatur-Piraten-Karibik-Insel-Welt mit Hilfe von handgestrickten Fingerpuppen, Segelschiffen und einer Vielzahl anderer Utensilien die Piratengeschichte entlang des Hollywood-Films nach. Zeitgleich wird das vom Schauspieler en miniature Gespielte mit einer Kamera aufgenommen und live auf eine Videoleinwand und mehrere Monitore übertragen. Für die Zuschauer ergibt sich dadurch die Möglichkeit, sowohl den live erstellten Film über die Monitore als auch den Schauspieler in seinem Agieren vor der Kamera zu verfolgen. Nicht zuletzt aus diesem Kontrast zwischen erzeugter Realität im Film und der offen ausgestellten Herstellung des Films (in seiner Einfachheit) bezieht der Abend seinen Witz (und zitiert auf seine Weise das Komödiengenre des Originalfilms).
Die Theateradaption des Films löst sich insofern vom Original - und nimmt damit die oben gezeichnete Allegorie in den Blick -, als der Schauspieler zur zentralen Erzählinstanz des Abends wird. Die auf dem Filmplot basierenden Dialoge und Szenen sind in einen eigens geschaffenen Erzählmodus eingebettet. Der Erzähler ist es, der die Geschichte darbietet und sie am Modell nachspielt. Dadurch ergeben sich Möglichkeiten der Befragung und Kommentierung, der Deutung und Ergänzung, der Weiterschreibung und Konterkarierung. Das Vergnügen - für die Zuschauer wie für uns Produzenten - liegt im Spiel mit den Erwartungen: Wo werden die bekannten Bilder und Szenen aus dem Film wiedererkennbar reproduziert? Wo lassen sich minimale Verschiebungen einbauen, wo größere Irritationen, wo können sprachliche oder bildliche Analogien erzeugt werden, die alle dem Zweck dienen, »Fenster« zur gegenwärtigen Finanzwelt und ihren Mechanismen aufzumachen?
Was den Film so reich für eine Adaption macht, ist seine in unzähligen Varianten gestellte Grundfrage nach Sinn und Verantwortung von Freiheit. Die schwierige Suche nach Freiheit und der maßvolle Umgang mit ihr sind in unserer pluralen und hoch komplexen Gesellschaft zu zentralen Fragestellungen geworden, die es gegen alle Ängste und gegen jeden Hass zu behaupten und immer wieder neu zu bestimmen gilt.