Kritik Theater der Zeit

Kritik: Theater der Zeit

Auf Puppenstubengröße      Der Regisseur Klaus Gehre schafft lustvoll Spielanordnungen, die den Blick auf Verborgenes schärfen
Theater der Zeit   Oktober 2013

Grundlegende Recherche. Detailversessenheit. Verspieltheit. Genauigkeit. Improvisationstalent. Alles Begriffe, die zu Klaus Gehre gehören. Zusammen mit dem Spieldesigner Lev Ledit hat Klaus Gehre zwei Jahre lang sein seine jüngste Arbeit am Theater Freiburg vorbereitet: Regiodrom, eine irrwitzige wie überwältigende Theatererfahrung. 24 Stunden simulieren 100 Zuschauer das Spiel des Kapitalismus, agieren in zwei Dörfern wirtschaftlich, politisch, gesellschaftlich. Das gesamte Theater mit seinen drei Spielstätten wurde für diesen Marathon geschlossen und umzäunt: Verschwendung von Ressourcen unter der Überschrift kapitalistischer Nachhaltigkeit.
Von Anfang an wirft Gehres Kapitalismusspiel jeden Teilnehmer auf existenzielle Bedürfnisse zurück. Selbstwertgefühl entsteht mit dem Erhalt von „Blüten“, dem täuschend echt designten Spielgeld. Was konsumiert wird, muss erwirtschaftet werden – sei es über der Hände Arbeit, sei es über Spekulation. So sorgt selbst das kräftezehrende Abtragen in der „Mine“ nach einer halben Stunde für Glücksgefühle des teilnehmenden Spielers, weil nun endlich Bedürfnisse über den Konsum befriedigt werden können. Währenddessen amüsieren sich andere individuell in der „Unterwelt“ bei verbotenen Spielen, deren Gewinne nicht mit in die „Oberwelt“ genommen werden dürfen. Das sorgt für die Erfahrung grundlegender Dichotomien. Verteilungsgerechtigkeit sieht anders aus.
Gehres Lust am Spiel ist keineswegs selbstreferenziell. Einfachheit und Klarheit der Spielanordnungen sind Grundvoraussetzungen für deren Gelingen. Aufwand und Ertrag werden von den Klammern der Anschaulichkeit und sinnlichen Erfahrung zusammengehalten, wesentlich ist die durchweg dominierende Transparenz spielerischer Grundanordnungen. Klaus Gehre reduziert in seinen Inszenierungen Komm, süßer Tod (Frankfurt am Main 2009) oder Liebesgrüße aus Temeswar (Freiburg 2012) Episches - damit prinzipiell Unspielbares - auf Puppenstubengröße, um diese Puppenrequisiten gleichzeitig mittels Videokamera überdimensional zu projizieren. Im Wechselspiel von gleichzeitiger Verkleinerung und Vergrößerung wird der Blick genauer, der Fokus enger: Dem Prinzip der Vergrößerung stellt Gehre die Ausschnitthaftigkeit des Kameraauges an die Seite. Er stellt die Mittel eines armen Theaters aus, legt die Absprünge in die Illusion konsequent offen und stärkt letztlich das Schauspiel, mit dessen Spielcharakter er als Erzähler virtuos hantiert.
Dabei bleibt Klaus Gehre eine Reflektierender: Es geht ihm beim Spielerischen um Erfahrungen und um – über die Erfahrungen hinaus – Erkenntnis.
Im Bereich der Biografien, die ihn umtreiben, versucht er Abgespaltenes künstlerisch herauszuarbeiten, sich anzunähern an einen überindividuellen, zeittypischen wie zeitlosen Kern. Die Fassade als Fassade kenntlich machen, um hinter die Fassaden zu blicken, dafür verschränkt er gern dramatische und filmische Stoffe. Heiner Müllers Wolokolamsker Chaussee 1 beispielsweise koppelte Gehre an James Camerons Terminator (Freiburg 2012); beide Stoffe sind im Orwell-Jahr 1984 entstanden: Müllers in der Zeitschleife gefangener Kommandeur und das Erlösungsversprechen von Camerons Terminator bilden hierbei die Pole des Vexierspieles von Mensch und Maschine. Die Grundfragen dieses künstlerischen Spieles der Verschränkung bleiben: Wie viel Fremdheit verdrängen wir? Und was davon kann auf künstlerische Weise offen gelegt werden?
Bodo Blitz


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