Die Fahne von Kriwoj Rog (1960/2004)

Konzeptionelle Überlegungen

Die Bearbeitung entstand anlässlich der Präsentation des Fernsehkammerspiels Die Fahne von Kriwoj Rog am 9. Januar 2003 im Berliner Brecht-Haus. Das Stück war im Mai 1960 live aus einem DEFA-Studio gesendet worden: eine Fernsehfassung von Otto Gotsches gleichnamigem Roman in der Regie von B. K. Tragelehn, nach dem Drehbuch von Heiner und Inge Müller. Seither galt der Film als verschollen. Im Frühjahr 2003 wurde der Film, zusammen mit dem Drehbuch, im deutschen Rundfunkarchiv wiederentdeckt, allerdings nur noch als Stummfilm − die Tonspur war nicht mehr vorhanden, ebenso die Komposition, die Siegfried Matthus seinerzeit erstellt hatte.
Die anlässlich der Neupräsentation erarbeitete Textfassung wurde durch eine Schauspielerin live zum Film eingelesen. Die Fassung basierte auf der grundsätzlichen Entscheidung, keine 1: 1-Nachsynchronisation zu erstellen. Der vorhandene Defekt des Films − das Fehlen der Tonspur − wurde vielmehr als produktive Möglichkeit der Aneignung des Films verstanden. Folgende vier Punkte waren für die Erarbeitung der Fassung maßgeblich:
1. Der Defekt darf nicht zum Verschwinden gebracht werden, sondern muss permanent sichtbar gehalten werden.
2. Durch eine semantische Über- bzw. Unterbesetzung der Tonspur lässt sich eine Wahrnehmungsschärfung auf der Ebene der Bilder erreichen.
3. Durch Vor- bzw. Rückbezüge auf andere Müller-Texte lassen sich diese kritisch reflektieren. Zudem wird der vorliegende Film neu lesbar.
4. Durch Einbezug aktueller Fragestellungen (Studentenstreik, Politiksprache etc.) wird eine Prüfung des Textes wie auch gegenwärtiger Positionen möglich.

Konzeptionelle Vorüberlegungen (Klaus Gehre, Auszug, Abdruck in Kalkfell zwei. Arbeitsbuch für Heiner Müller
Die für einen Regisseur vielleicht naheliegendste Idee, den Film durch Nachsynchronisation wieder zu rekonstruieren, dürfte so schwer nicht zu realisieren sein. Aber aus dem Gesagten lässt sich schnell ableiten, dass der Aufwand nicht lohnen würde, wenn Bild und Text lediglich eins zu eins wieder zusammengebracht würden. Ein solcher Film würde kaum mehr erzählen als der vorliegende. Interessanter scheint da schon eine andere Überlegung, die an den vorherigen Überlegungen ansetzt. Statt Text und Bild im Sinne ihrer gegenseitigen Bestätigung zusammenbringen zu wollen, wäre es viel spannender, den Film mit einer Tonspur zu versehen, die dem vorliegenden Text zwar folgt und ihn als Ausgangsbasis nimmt, die ihn aber an genau den Punkten aussetzt oder verändert, wo jene Denksicherheiten von Text und Bild aufgebrochen werden können, wo sich Bezüge zu anderen Texten oder zu anderen Lesarten eines Topos herstellen und in Frage stellen lassen, wo sich die historisch bedingten Veränderungen von Geschichtsentwürfen, Wahrnehmungen und Denkmustern reflektieren lassen − wodurch letztlich die in Text und Film entworfene(n) Geschichte(n) anders lesbar wird (werden).
Konkret könnte das realisiert werden über ein Aussetzen von Text/Sprache im einfachsten Sinne, über das Einmontieren anderer Texte in Sprechpausen oder anstelle des Originaltextes, über verschiedene, variierende Formen der Präsentation des Textes, die von der ursprünglichen Funktion der Textsequenzen im Gesamttext abweichen (Figurenrede als Kommentar etc.), über Variationen im Sprachgestus, die von der historischen abweichen, etc.
Der Suchbefehl, mit dem eine solche Textfassung erstellt werden müsste, sollte darin bestehen, eine „Rezeption des Erwartbaren“ auszusetzen. Statt einer Abfolge erwartbarer und vorauszusehender Bilder, in der jedes Bild ein Anschlussbild evoziert und zugleich durch dieses bestätigt wird, sollten vielmehr derartige Erwartungen ausgesetzt werden − in Bezug auf das Zusammenspiel von Bild und Text, aber auch des Textes zu anderen Texten. Dadurch könnte beim Rezipienten eine produktive Haltung der Suche stimuliert werden. Der Rezipient kann sich nicht mehr zurücklehnen in die Abfolge des Erwartbaren und Bekannten. Indem genau diese Anschlüsse und Bestätigungen verweigert werden, müsste er diese vielmehr neu erstellen. Er würde Bilder und Texte und die Texte untereinander neu zusammensetzen müssen, müsste sie kohärent machen und damit Sinn entwerfen, würde sich damit selbst einschreiben, müsste sich in eine Suchbewegung begeben, die den vorliegenden Text wie auch die anderen Müller-Texte neu ins Auge nehmen lässt. Allein ein solcher Umgang der „Verweigerung“ verspräche Kreativität, die Text und Film in der Gegenwart halten könnte. Ob sich der Aufwand lohnt oder ob am Ende nicht doch der Sand der Geschichte drüber hinweggeht, wird man später sehen.
(Klaus Gehre: Vom Winde verweht. Die Fahne von Kriwoj Rog in Müllers Fernsehbearbeitung. Abgedruckt in Kalkfell zwei. Arbeitsbuch für Heiner Müller. Hrsg. von Frank Hörnigk. Theater der Zeit, Berlin 2004, S. 32−34)

Konzeptionelle Nachüberlegungen (Christian Rakow, Auszug, Abdruck in Theater der Zeit, April 2004)
Unsere Bearbeitung des Fernsehspiels Kriwoj Rog basiert auf dem filmischen Material und dem vorliegenden Drehbuch von Heiner und Inge Müller. Möglich geworden ist sie überhaupt erst durch einen Defekt: Dem Film fehlt die Tonspur. Zwischen den stumm ablaufenden Bildern einerseits und der textlich fixierten Geschichte auf der anderen Seite besteht ein Bruch, der eine einfache Rezeptionshaltung bereits vorgängig ausschließt und stattdessen eine Produktionsstelle eröffnet [...].
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen erschien es uns notwendig, auf die vollständige Reproduktion der Geschichte von Kriwoj Rog zu verzichten und stattdessen die eingangs beschriebene Perspektive in die Arbeit mit aufzunehmen. Was wird lesbar an dem Fundstück Kriwoj Rog, wenn man es mit den Augen des Jahres 2004 ansieht? Um diese Frage am Objekt entwickeln zu können, haben wir eine Textfassung entlang der Szenenfolge des Films erstellt. Die Fabel wird von unserem Erzähler (oder besser unserem Erzählkollektiv) sowie in direkter Rede der Figuren dargeboten. Dass wir die Figurenreden vielfach gekürzt und damit die vollständige Synchronisation von Lesung und Film von vornherein ausgeschlossen haben, gehört zum Prinzip: Die Differenz von Bild und Ton muss offen gehalten werden, um die eigene Differenz zum Objekt markieren zu können. Zudem unterbricht die so entstehende „Reibung“ von Bild und Ton den Gang der Rezeptionserwartung, um für eine akzentuierte Wahrnehmung frei zu werden: Wie wird etwa die Mikrophysik von Gesten und Haltungen lesbar, wenn die Erzählstimme aussetzt? Und welche Bedeutungszusätze gibt der Zuschauer Wörtern wie „Demonstrationen“, wenn ihre diskursive Umgebung nicht vorgängig festgelegt ist? Diesen Reflexionen dienen die ausführliche Verwendung von Regieanweisungen, die teilweise der Vorlage von Heiner Müller entstammen, teilweise unsere Zugabe sind, ebenso wie die längeren Auslassungen (so z. B. die am Aufführungsabend umstrittene Leerstelle: „Mutter Brosowski erzählt von Demonstrationen mit der Fahne von Kriwoj Rog.“ 1.53 min Stille).
Die Aktualisierungen von unserer Seite stehen weitestgehend in der Form von Einschüben, Fragen und Querverweisen. Ihr zugrunde liegendes Motiv ist die Irritation. Die Irritation etwa über die Logik der Gewalt, wenn der Protagonist Otto Brosowski seinem Sohn verspricht: „Heute jagen sie uns, morgen werden wir sie jagen.“ Ist das eine notwendige Abfolge in geschichtlichen Prozessen? Schließt an Verfolgung stets Verfolgung an? Ähnlich verhält es sich mit der Irritation über die Körper- und Gesundheitsbilder im Reden der Figuren. Bestenfalls kehrt sich diese Irritation um, wenn sich im gegenwärtigen politischen Reden ähnliche Tropen finden lassen (Auszug aus der Rede von Thilo Sarazin). Ob diese Äquivalenz in identische Machteffekte führt oder nicht, ist eine Frage, mit der das Werk über sich hinausgewiesen wird − als Diskursangebot. [...]
(Christian Rakow: Bild ohne Beispiel. Nachtrag zu einer Bearbeitung des Fernsehfilms Die Fahne von Kriwoj Rog (1960). Abgedruckt in Theater der Zeit, April 2004/Insert, S. 23−24)