Generation Nora (nach Ibsen)

Konzeptionelle Überlegungen

Die Inszenierung wurde konzeptionell − wie bereits Reigen reloaded − aus dem Format der Notaufnahme am Schauspiel Leipzig entwickelt: einem Freitagabendclub mit sehr jungem Publikum. Im Gegensatz zu den nur lose aufeinander Bezug nehmenden Szenen des Reigens bestand die neue Herausforderung bei Nora darin, ein dreiaktiges, in seinem Konfliktverlauf und seinen Figurenentwicklungen komplexes Schauspiel auf eine maximal 45-minütige Spielfassung zu bringen. Zwei grundsätzliche Entscheidungen machten dies möglich: die Beschränkung auf die vier Figuren Nora, Helmer, Krogstad und Christine sowie dramaturgisch die epische Zusammenfassung von Stückabschnitten (siehe hierzu auch: Dramaturgie und Erzähler).
Der Konflikt des Stückes musste − vor dem Hintergrund einer veränderten gesellschaftlicher Position der Frau zu Beginn des 21. Jahrhunderts − neu bestimmt werden. Musste sich Ibsens Nora noch im wahrsten Sinne emanzipieren von einer vollständigen Abhängigkeit und Bestimmung ihrer selbst durch ihren Mann (deretwegen sie auch nicht rechtsfähig war), zeigte sich Noras Problem in unserer Interpretation subtiler (und beschrieb in seiner Zuspitzung dennoch die Problemlage einer neuen Frauengeneration): In einer Welt, die geprägt ist von Bildern sexuellen Begehrens, kann es für eine als schön und sexuell begehrenswert geltende Frau schwer sein, ein gesundes Selbstbewusstsein zu erlangen, das Ausdruck einer in sich stabilen und sich selbst gewissen Identität ist. Nora lebt mit dem Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, vielmehr nur ihrer Äußerlichkeit wegen attraktiv zu sein − eine Puppe zu sein. Deshalb ihr unbedingtes Ringen um Anerkennung − teils kompensatorisch über modische Äußerlichkeiten oder das Ausspielen ihrer sexuellen Reize, oft über durch sie provozierte Konfliktsituationen, durch die sie andere zwingt, sich zu ihr zu verhalten. Konnte der Schluss − Noras Weggehen von Mann und Familie − früher noch optimistisch als Auftakt und Vollzug einer Emanzipation gedeutet werden, wurde es in unserer Lesart ein auf die Spitze getriebenes Spiel mit den Gefühlen anderer, um in dem verzweifelten Bemühen des Gegenübers das eigene Ich zu spüren.

Bühnenraum:
Der Bühnenraum wurde ausgehend von den Besonderheiten der Clubsituation in der Notaufnahme des Schauspiel Leipzigs entwickelt. Im Bemühen, keine abgeteilte Bühne zu etablieren, sondern inmitten der Clubgäste zu spielen, wurde ein quer durch den Raum verlaufender, 15 m langer Laufsteg installiert, in dessen Mitte ein Sofa eingelassen war. Dadurch waren die Schauspieler selbst Teil des Clubgeschehens. Zudem konnten durch diese Anordnung inhaltlich zwei Bereiche übereinander gelegt werden: der Laufsteg als Symbol einer auf sexuelles Begehren ausgerichteten Äußerlichkeit sowie das Sofa als intimster Ort einer bürgerlichen Wohnlichkeit.

Dramaturgie und Erzähler:
Die Inszenierung setzte sich aus vier Teilen zusammen: zwei Erzählertexten, zwischen die ein Block von vier aufeinander folgenden Szenen gelagert war, sowie der abschließenden Schlussszene. Über den ersten Erzählertext war es möglich, direkt in die Konfliktsituation, die durch das Kündigungsschreiben von Helmer an Krogstad ausgelöst wird, einzusteigen (Szene 1). Die Anbahnung des Konfliktes sowie die außerhalb des Stückes liegende Vorgeschichte konnten en Passant abgehandelt werden. Der Hauptblock der vier aufeinander folgenden Szenen endete mit der wieder neu entstehenden Liebesbeziehung zwischen Krogstad und Christine. Hier setzte ein zweiter Erzählertext ein, der direkt in den Schluss der letzten Szene führte.
Erzähler 1: Was bisher geschah
Szene 1: Nora und Helmer
Szene 2: Nora und Krogstad
Szene 3: Nora und Christine
Szene 4: Christine und Krogstad
Erzähler 2: Die Briefe und Helmers Ausraster
Szene 5 (Schluss): Nora und Helmer

Kate Moss und Pete Doherty:
Mit dem zweifachen Einsatz des Erzählers war es möglich − neben dem hauptsächlich beabsichtigten Zusammenfassen von Handlung −, dem Zuschauer Interpretationshilfen und Akzentuierungen und damit auch Reibungsflächen an die Hand zu geben. Durch das Aufrufen popkultureller Phänomene − in unserem Fall die medienöffentliche Liebesbeziehung zwischen dem Topmodel Kate Moss und dem Drogenskandalsänger Pete Doherty − war es uns zudem möglich, das Stück und seine Problematik für ein jugendliches Publikum und dessen Diskurse aufzuschließen. Vor dem grellen Hintergrund eines heutigen, den Jugendlichen durch die Medien vertrauten Phänomens wurden die in dem 100 Jahre alten Stück verhandelten Konflikte und Themen neu lesbar.